Für Mitwirkende

Die Lehren aus dem Anderssein


Triggerwarnung: In diesem Blogbeitrag werden Vorfälle von übergriffigem Verhalten, Beleidigungen und Mobbing geschildert.

Ein Rapsfeld, in dem eine einzige anders farbene Blume hinauf wächst.

Anderssein. Wie und wer definiert das? Warum wird es immer noch stigmatisiert? Ist Individualität nicht die Essenz des Menschseins? Wer bestimmt die Normen und warum haben wir überhaupt welche? All diese Fragen begleiten mich schon mein ganzes, junges Leben. Zumindest seitdem ich meine Schullaufbahn begann. Vorher stellt man sich solche Fragen gar nicht, erst recht nicht in dem Ausmaß.

Ich wurde nicht mit Grenzen geboren, durfte einfach ich sein. Durfte erleben und musste mich nicht hinterfragen, einfach Kind sein. Also waren keine Zeit und Notwendigkeit für solche Fragen. Was ich nicht wusste, ist dass dies bedeutete, groß zu werden in einer Realität, die uns doch so oft daran erinnert, dass „man selbst sein“ in einigen Fällen immer noch bedeutet, Hürden überspringen und sich einfügen zu müssen. Grenzen aufgezeigt zu bekommen. Und eben, ja, anders zu sein.

2012 kam ich in die sechste Klasse des Gymnasiums in meiner Heimatstadt. Ich war da geboren, also gehörte ich auch dahin, dachte ich. Außerdem war schon ein Jahr vergangen, seitdem ich auf diese Schule gewechselt hatte. Nichts konnte schief gehen, dachte ich. Ich war sicher hier. Anscheinend hatte das Leben aber andere Pläne für mich. Ich sollte also „anders“ sein. Ich, männlich, 12, fing an mich bunter oder verrückter anzuziehen, meine Haare waren immer mal wieder neu gefärbt, meine guten Freunde waren fast ausschließlich alle weiblich. Mitmenschen gefiel das nicht. „Abscheulich“, „Wie viel hat dein Makeup gekostet du Schwein?“, „Was ist mit dem denn los?“ sind nur einige Sprüche die ich zu hören bekam. „Du Schw*****“ war dann aber doch der Sieger unter den beliebtesten und häufigsten Beleidigungen. Und wenn es keine Beleidigungen waren, dann verbreitete man eben Gerüchte über mich und meine Sexualität, drohte mir Prügel an, lachte mich aus oder sagte, dass man AIDS bekomme, wenn man mich anfasse. Freunde ließen sich mitreißen, der Freundeskreis, und damit der Kreis der Leute, denen ich vertraute, wurde kleiner. Damit schwand auch das Gefühl, dass ich hier gut aufgehoben sei.

Irgendwas zwischen fünf und sechs Jahren verging. Andauernde Beleidigungen, ungefragte Meinungen über meine Art mich zu kleiden oder generell auszusehen waren schon fast Alltag. Die Frage, warum und wann ich so geworden war, blockierten meinen Kopf. Ich fing an einen Schutzmechanismus zu entwickeln, misstrauisch und defensiv zu meinen Mitmenschen zu sein, Familie und Freunde genau so zu behandeln, wie ich mich fühlte. Es wirkte nicht so, als wäre da jemand der genau dasselbe durchmachte. Jemand der mich in den Arm nehmen und mir sagen konnte: „Ich verstehe dich, mir ging es auch so. Ich habe das auch erlebt, ich wurde auch so behandelt.“ Meine Gedanken waren immer: Da sind Alle und daneben Ich, der andere halt.

Ein Wassertropfen in naher Aufnahme.

In dem Jahr als ich mein Abitur bekam, fühlte es sich an als überkäme mich eine Stimmung auszubrechen. All die Jahre an mentaler Folter fühlten sich nun vollkommen an. Hier war ich, ein gestandener junger Mensch, die Welt vor mir und bereit mich mit offenen Armen zu empfangen. Und da wurde es mir klar. Ich wurde nicht so, ich war es schon immer. Ich habe als Kind mit kleinen Pferdchen und Puppen gespielt, Winx geschaut, mein Halstuch auf den Kopf gelegt, um so zu tun, als wenn ich lange Haare habe, verrückt im Garten meiner Eltern in einer quietschbunten Unterhose zu Shakira getanzt und ich hatte keine Scham. Allein mein Umfeld hatte versucht, meine Daseinsberechtigung kleinzureden. Und genau dann entschied ich mich exakt diesen Teil von mir aufleben zu lassen. Dies war meine Entscheidung, das Selbstbewusstsein aus meiner Kindheit wieder zurück in meinen Alltag zu lassen. Es gab keinen Grund so hart mit mir selbst und meinen Mitmenschen umzugehen. Mit mir war und ist nichts falsch. Ich muss mich keiner Norm fügen, um Teil unserer Gesellschaft zu sein. Und ich bin nicht anders, ich bin keine Provokation. Ich bin ich selbst. Ich bin ein Mensch, komplex und habe jede Berechtigung hier zu existieren. Und auch das Gefühl nicht in diese Stadt zu gehören verschwand, denn kein anderer Mensch bestimmt für mich, wo ich meine Heimat sehe. Ab diesem Zeitpunkt wurde Heimat auch so viel mehr als ein Ort. Es wurde das Gefühl, einen inneren Frieden finden zu können und selbstbestimmt zu werden. Meine Heimat war und bin ich selbst, meine Familie und Freunde, die mich immer bei der wichtigsten und mutigsten Sache unterstützt haben. Ich selbst zu sein.

Heute bin ich 22 und ich kann sagen, dass diese Zeit mich geprägt hat, und das tut sie immer noch. Schwierige Erlebnisse und Erfahrungen sind wie Ebbe und Flut, sie kommen und gehen, manchmal ohne, dass man es voraussehen kann und eh man sich versieht, steht man mittendrin und kommt nicht heraus. Dunkle, einsame und schier hoffnungslose Zeiten fühlen sich endlos an. Vor allem wenn man das Gefühl hat allein zu sein. Aber wenn ich durch meine Erfahrungen bis jetzt eins lernen durfte, dann, dass man nicht allein ist, solange man sich selbst hat. Und dieses Privileg und Geschenk kann einem keiner nehmen. Und selbst wenn Existieren für einige von uns bedeutet, nicht dem Standard zu entsprechen. So what, dann sind wir mit Stolz „anders“ und stellen uns beständig den Herausforderungen gegenüber. Denn wir wissen es geht nicht darum anders zu sein, sondern individuell und man selbst. Denn nicht die Individualität ist die Gefahr unserer Gesellschaft, sondern die Angst davor.

Von Tom