Mehr als 3.000 Kilometer sind es von Rheinsheim – einem Teil der Stadt Philippsburg – bis nach Sizilien. Der 33-jährige Kevin Kowalczyk ist die gesamte Strecke mit dem Fahrrad gefahren, um auf das Thema Mobbing aufmerksam zu machen und ein Tabu zu brechen. Denn Kevin sammelte in seiner Spendenaktion während der Reise sagenhafte 1.775€ für unsere Mobbingprävention bei Zeichen gegen Mobbing e. V. Für Kevin ist diese Reise eine Herzensangelegenheit, da er als Jugendlicher selbst Mobbing erfahren hat und bis heute mit den Folgen konfrontiert ist.
Im Interview erzählt er uns mehr über seine persönliche Geschichte, gibt Tipps mit auf den Weg und berichtet von seinem eigenen Zeichen gegen Mobbing: der Radtour von Rheinsheim nach Sizilien.
Du hast selbst Mobbingerfahrungen gemacht. Wie war das für Dich und wie bist Du damit umgegangen?
Meine eigenen Mobbingerfahrungen haben mit Beginn der sechsten Klasse angefangen. Aufgrund der Größe unserer Klasse wurde entschieden, dass sich die Klasse in zwei Teile trennen sollte. Ich sollte dabei in den Teil der Klasse, zu dem ich weniger Bezug hatte. Ich wehrte mich mit Händen und Füßen dagegen, aber die Entscheidung war bereits gefallen. Für mich war das so ein herber Schlag ins Gesicht, so dass ich regelmäßig heulend zur Schule gegangen bin. Weiterhin saß ich aufgrund meiner Krankheit (Alport-Syndrom) und der damit einhergehenden Schwerhörigkeit von 50 % immer vorne in der ersten Reihe. Die Philosophie rund um die erste Reihe dürfte den meisten bekannt sein.
Hier findest Du Hilfe
Du hast Suizidgedanken, große Sorgen und fühlst Dich einsam? Die Telefonseelsorge hilft Menschen mit Suizidgedanken anonym und das 24 Stunden an sieben Tagen die Woche. Rufe dafür in Deutschland eine der folgenden Telefonnummern an: 0800 1110111 oder 0800 1110222. Die Berater:innen sind geschult und schlagen konkrete Hilfsangebote vor. Auch der ärztliche Notdienst kann helfen. Hier findest Du weitere Kontaktmöglichkeiten, zum Beispiel per E-Mail oder Chat: https://www.telefonseelsorge.de/
Wie hast Du es für dich in der ersten Reihe erlebt?
Jedenfalls war man (ich) damit automatisch mehr als nur uncool. Dadurch war ich ein gefundenes Fressen für all diejenigen, die das zu nutzen gedachten. Ich wurde beleidigt, mit Papierkügelchen bespuckt und als Schwächling abgestempelt. Einen konstruktiven Umgang damit hatte ich damals nicht. Ich habe mich in die Punker-, Metal- und Emoszene geflüchtet, habe Splatterfilme geschaut und alles darangesetzt, mich emotional abzustumpfen. Um es bildlich darzustellen: Ich habe versucht eine Mauer um mein Herz zu bauen. Ich habe mich zu sehr geschämt, um es bei irgendwem anzusprechen. Ich habe mich allein gefühlt, als ein Fremdkörper, als nicht wertvoll, nicht liebenswert – ausgegrenzt und irgendwann auch fremd vor mir selbst. Im Endeffekt habe ich mich gefühlt wie ein Rudeltier, dass aus dem Rudel ausgeschlossen wurde. Für mich kamen damit auch erstmals suizidalen Gedanken auf.
Was hat Dir damals geholfen damit umzugehen?
Zwei Klassenkameraden, ebenfalls Außenseiter, wurden zu meinen Freunden. Das war für mich unfassbar wichtig. In dieser Gruppe fühlte ich mich wohl und verstanden. Allen voran aber akzeptiert.
Dein persönliches Zeichen ist „Radeln gegen Mobbing“. Wie bist Du dazu gekommen und woher kam die Idee dafür?
Long story short: Ich habe schon immer tief in mir drin das Bedürfnis, etwas Positives in die Welt zu tragen. Bisher wusste ich nur noch nicht so richtig, wie. Als ich im Jahr 2023 das erste Mal mit Freunden und dem Fahrrad die Alpen nach Venedig überquert habe, hatte ich mir bereits vorgestellt, wie es wohl sein würde, nach Sizilien zu fahren. Sizilien hat mich schon immer vom Hören und Sagen fasziniert. Bei der Reise damals hat es das erste Mal Klick gemacht. Während ich dann in meiner zweiten Therapie aufgrund meiner suizidalen Gedanken war, wurde mir immer bewusster, dass ich nicht länger warten wollen würde. Ich wollte nicht länger dieses Bedürfnis aufschieben, sondern einfach machen. Also hatte ich mich eines Tages entschieden, mit dem Rad von Rheinsheim nach Sizilien zu fahren – das war Klick Nr. 2. Mit der Entscheidung für die Radreise fingen meine Knospen wieder Feuer und mein Kopf schwebte in Kreativität. Mir fehlte noch ein kleines Puzzleteil, irgendetwas fehlte mir noch für die Reise. Da die suizidalen Gedanken aus meinen damaligen Mobbingerfahrungen in der Schule resultierten, lag das fehlende Puzzleteil etwas später ebenfalls vor mir. Ich wollte die Radreise mit einem guten Zweck kombinieren. Etwas, zu dem ich selbst zu hundert Prozent stehen kann und auch bereits meine eigenen Erfahrungen damit gemacht hab – Klick Nr. 3. So entstand schlussendlich „Radeln gegen Mobbing“.
Was waren Deine Highlights während Deiner Tour?
Puh, da gab es so viele Highlights, über die ich auch ausführlich auf meinem Blog berichtet habe. Das wesentlichste Highlight für mich war die Lebendigkeit, die ich während der ganzen Reise verspürt habe. Diese Losgelöstheit von Erwartungen, Zeit- und Leistungsdruck. Dafür Entschleunigung, die Nähe zur Natur und das Anpassen an die Bedingungen der Natur. Die vielen wunderschönen Begegnungen und Begleiter auf meiner Reise, der Respekt und kleinste Gesten. Sich dabei auch noch für andere einzustehen und ein Zeichen zu setzen.
Was war Deine größte Challenge und wie hast Du sie überwunden?
Die größte Challenge für mich war Sizilien selbst. Tatsächlich hatte ich das Gefühl mit dem Erreichen der Insel bereits das eigentliche Ziel erreicht zu haben. Daher fiel es mir gerade am Anfang schwer, auf der Insel in einen Rhythmus zu finden. Auch habe ich schnell festgestellt, dass mir die Insel tatsächlich nicht so gut gefällt und ich aufgrund der Erzählungen und Google Bilder deutlich höhere Erwartungen daran hatte. Keine Frage, das Meer war ein absoluter Traum, aber fernab der touristischen Hotspots begegnete ich wenig Farben, viel Müll und unschönen Industriegebieten.
Was möchtest Du Betroffenen mit auf den Weg geben?
Die eigenen Mobbingerfahrungen zu verarbeiten kann sehr anstrengend, mühsam und steinig sein. Ich wusste auch oft nicht weiter, fühlte mich einsam und allein. Doch du bist nie allein und es lohnt sich dranzubleiben. Es lohnt sich, da du irgendwann einen Punkt erreichen wirst, an dem du mit neuen Augen auf die Erfahrungen zurückblicken kannst. Du wirst dann das vergangene Leid in etwas Positives umwandeln können, zum Beispiel Empathie für andere. Egal wie du bist, du bist so genau richtig!
Was möchtest Du Mitläufer:innen mit auf den Weg geben?
Nichts tun ist keine Option. Es gibt viele Möglichkeiten, sich für Mobbingbetroffene einzusetzen, selbstverständlich auch, ohne selbst ins Visier von Akteur:innen zu geraten. So kann man die Vorfälle zum Beispiel den Lehrkräften (vor allem der Lehrkraft des Vertrauens) oder gar der Schulleitung melden. Zeige der betroffenen Person außerdem, dass du ihr helfen möchtest und für sie da bist. Betroffene fühlen sich oftmals alleine und hilflos, mit deiner Unterstützung kannst du zeigen, dass dem nicht so ist.
Hast Du Tipps für Eltern?
Die Anzeichen von Mobbing machen sich (fast immer) bemerkbar. In meinem Fall habe ich damals oft über Bauchschmerzen geklagt, jedoch konnte keiner den Bezug dazu herstellen. Im Nachgang passt das aber ganz gut, da ich schon immer ein sehr stark mit dem Bauch fühlender Mensch war. Auch das Verweigern der Schule oder ein hohes Maß an Wut können Zeichen dafür sein, dass in der Schule irgendetwas vorgefallen ist oder regelmäßig vorfällt. Es macht also aus meiner Sicht in jedem Fall Sinn, sensibel zu sein, Warnsignale frühzeitig wahrzunehmen und, sofern möglich, in eine proaktive Kommunikation zu gehen.
Was könnten Schulen aus Deiner Sicht besser machen, wenn es um das Thema Mobbing geht?
Aus meiner Sicht braucht es Lehrkräfte, die das Thema mit Ernsthaftigkeit und Konsequenz angehen. Dafür braucht es aber wiederum auch Kapazitäten und Weiterbildungen für die Lehrkräfte, sodass sie die Mechanismen des Mobbings auch wirklich verstehen lernen. Weiterhin sollte es zum Beispiel auch Workshops für Klassen geben, damit die Kinder und Jugendlichen innerhalb der Klassen für das Thema und insbesondere dessen Folgen sensibilisiert werden.
Was ist Dein persönliches Fazit im Rückblick auf Deine Tour?
Ich höre immer wieder den Satz: „Was kann ich schon als einzelne Person schon in dieser Welt bewirken?“, und diese Reise ist für mich die Antwort: „Verdammt viel!“.
Mehr Informationen zu Kevin und seiner gesamten Reise findest Du auf seinem Blog: https://radeln-gegen-mobbing.de/
Du möchtest auch ein persönliches Zeichen gegen Mobbing setzen? Du hast vielleicht schon eine Idee oder würdest gerne mit uns Möglichkeiten besprechen? Schreib uns gerne an fundraising@zeichen-gegen-mobbing.de, wir freuen uns auf den gemeinsamen Austausch!